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Die „Schule der Trunkenheit“ führt galant hinüber ins Reich des Rausches – Der Alltag ist plötzlich weit entfernt - Eine Selbsterfahrung
Kai Ritzmann

Am frühen Sonntagabend kommen in der Tiergartener Victoria Bar die gelehrigen Schüler des kultivierten Trinkgenusses zusammen und entdecken dabei die Freuden des leichten Benommenseins.

Es ist alles wie es sein soll. Die Stunde ist blau und weich und zärtlich. Die Flaschen leuchten grün und bernsteinfarben. Die Gläser stehen Spalier und warten darauf, gefüllt zu werden. Der Abend ist noch jung und unverbraucht. Und die Erwartungen sind groß. Wir möchten hineingezogen werden in ein Abenteuer, von dem wir nur eine ungefähre Ahnung haben. Wir haben die Pforte durchschritten, die Tür zur Victoria Bar hat sich geöffnet und eine freundliche Stimme hat uns willkommen geheißen. Wir haben vorläufig Abschied genommen von der Welt da draußen und einen Platz gefunden am Ende einer langen Reihe schon besetzter Hocker. Langsam kommen wir zur Ruhe. Gedämpfte Stimmen. Gedämpftes Licht. Alles wird gut. Es kann beginnen.

Eiswürfel klirren, Shaker blitzen, vorgekühlte Trinkgefäße beschlagen. Die drei von der Theke beginnen mit der Arbeit. Sie sind für die nächsten vier Stunden unsere Lehrmeister. Sie haben einen Plan: Sie wollen uns in den Kosmos der leicht betäubenden Getränke entführen. Sie wissen um die Geheimnisse der Drinks. Sie kennen die Kräfte, die den Ingredienzen innewohnen. Sie haben alles zu ihrer Verfügung: Rums und Gins, Brandys, amerikanische Whiskeys und schottische Whiskys, Wodkas und andere Destillate, süße und saure Säfte, Exotisches und Altbewährtes, Wässerchen, die umhauen, und Wässerchen, die aufrichten. Sie können die Me4nschen munter machen oder auch schläfrig. Sie bitten hinein ins Reich der geraubten Sinne.

Bartender sind, auch im größten Gedränge, einsame Zauberer. An diesem besonderen Abend aber, an dem nichts uns daran hindern möge, uns ihren Verführungskünsten hinzugeben, nehmen sie uns ausnahmsweise mit in ihr Universum, mit auf die Reise an die Gestade des wohligsten Benommenseins. Diesmal begleiten sie uns. Diesmal setzen wir gemeinsam über.

Wir sind eingetreten in die „Schule der Trunkenheit“. Wir sind jetzt Eleven der sanftesten Ausschweifung, Zöglinge des Genusses, Kadetten der Dekadenz. Wir sind wissensdurstig und gelehrig. Ein langer Löffel schlägt an ein Glas, der helle Ton lässt uns verstummen. Der Lehrkörper heißt und willkommen und beginnt sein Abendwerk.

Die "Schule der Trunkenheit" in der Victoriabar vermittelt rauschhaftes Hintergrundwissen
von Marin Majica

Gesellschaftlich visionär. So soll er sein, der Rausch, der sich beim Genuss von Gin einstellt. Das sagt zumindest der glatzköpfige Barkeeper Gonzalo de Sousa Monteiro, der hinter derTheke der Victoriabar steht und über den Schnaps doziert. Die rund 20 Zuhörer vor dem Tresen grinsen. Vor lauter Einsicht. Oder weil im Blut bereits zwei servierte Cocktails surren. Denn die "Schule der Trunkenheit", zu der Kenner und Novizen des distinguierten Rausches in der Potsdamer Straße 102 zusammengekommen sind, ist durchaus praxisorientiert. DieTrink-Lehrgänge, die Barchef Stefan Weber und seine Mitarbeiter jeden Sonntag abhalten, sind monatswelse einem Cocktail-Basisgetränk gewidmet: Im Dezember Wodka, dann folgen Whisky und Whiskey, Rum und Champagner.

Doch zum Schulbeginn im November geht es um Gin. Die Zuhörer, die für den Unterricht 40 Euro bezahlt haben, erfahren, dass der holländische Alchimist Franciscus de la Boe Mitte des 17. Jahrhunderts als Erster einen Wacholderschnaps destillierte, den er als Elixier gegen die Seekrankheit konzipierte. Der "Genever" wurde in England zum Gin, den im 18. Jahrhundert jeder brennen durfte. Meist kam dabei aber ein schlimmes Gebräu heraus. 1820 wurde ein neues Destillationsverfahren erfunden, das den Gin zum heute bekannten Getränk machte. Und zu dem Stoff, der genauso eine gute Figur macht im Lieblingsgetränk der italienischen Futuristen, dem Negroni (Campari, Martini Rosso, Gin), wie im Pimms Cup mit Gurkengeschmack, Standard bei englischen Gartenpartys.

"So, meine Schüler", ruft Sousa Monteiro die Trlnker zur Ordnung, die ausgelassen ihre Cocktails leeren. Es steht der nächste Cocktail an: der Martini. Nicht der Wermut, den die gleichnamige Firma in grüånen Flaschen verkauft, sondern das Gemisch Gin-Wermut 8:1. "Gin muss kalt sein", sagt Sousa Monteiro in einem Tonfall, dass man den Satz in Stein meißeln und nach Hause tragen möchte. Roosevelt und Churchill ersonnen bei einem Martini die Landung in der Normandie, Bunuel und Cary Grant tranken ihn, erzählt der Barkeeper, James Bond trinkt ihn, geschüttelt, nicht gerührt. Das ist falsch: Beim Schütteln wird das Eis zerschlagen und verwässert den Drink, das Getränk wird trüb, erklärt Sousa Monteiro, und serviert ihn dann, den Drink schlechthin. Der scharfe Geruch zieht hinter die Stirn und weitet das Hirn. Nach dem dritten Schluck leuchtet der Raum, der Slogan der Victoriabar entfaltet seine Bedeutung: Pleasure of serious drinking, ernsthaftes Trinken. Bewusst doppeldeutig. Es folgen noch ein Gin Julep und ein Lord Jim an diesem Abend, aber vor allem der Martini hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Gesellschaftlich visionär? Zumindest macht er gespannt auf die Entdeckungen, die der Wodka bereithält.

In der "Schule der Trunkenheit" in der Victoria Bar wird der Gast mit Getränken und Geschichten abgefüllt
von Frank Jansen

Gin war einst ein grausiges Gesöff.lm England des 18. Jahrhunderts durfte jeder Bürger den Wacholderschnaps brennen, mit katastrophalen Folgen. "Da reißen sich die Huren ihre Kinder von der Brust. um sich dem Teufel Gin hinzugeben, der Pöbel scheißt und uriniert auf offener Straße und auf dem Dachboden eines der Fachwerkhäuser hängt einer unglücklich am Strick", doziert Stefan Weber und hält die Kopie eines wüsten GemäIdes in die Höhe. Die Gäste der Victoria Bar gruseln sich wohlig. Werden auch sie am Ende des Abends jede Contenance fahren lassen, auf die Potsdamer Straße stürzen und tollwütig den Landfrieden brechen? Nicht doch. Die Crew der Cocktailbar in Tiergarten lehrt ihr Publikum das disziplinierte Dahingleiten, nicht den Absturz.

Seit zwei Wochen lädt der hagere Barchef Stefan Weber zur "Schule der Trunkenheit". Jeden Sonntagabend wird der Umgang mit einer Basisspirituose unterrichtet, im November geht es um Gin. Am Tresen sitzen 20 lernwillige und zumindest finanziell flüssige Gäste. Dafür erteilen Weber und sein Team - die herbherzliche Beate Hindermann und der haarlose Portugiese Goncalo de Sousa Monteiro - fünf Lektionen, so feucht wie fundiert und von Weber mit dem Schlag eines Martinilöffels auf eine Flasche des Edelgins Bombay Sapphire eingeläutet. Aufgepasst: Der "Negroni". Dieser Cocktail ist ein Kind der Prohibition: In amerikanischen Apotheken habe man in den zwanziger Jahren "noch relativ lange unter gewissen Umständen" Bitter und Vermouth kaufen können. sagt Beate Hindermann. US- Touristen hätten den Drink auch in Italien geordert, wo er "Americano" genannt wurde - bis der florentinische Graf Camille Negroni "auf die einfache, aber geniale Idee kam, diese Mischung um einen gehörigen Schuss Gin zu erweitern". Die Eleven blicken beeindruckt in die Gläser mit dem rötlichen Mix aus Campari, Martini Rosso, Gilbey's Gin und gelockten Zitronen- und Orangenschalen. Dann werden die Gläser synchron angehoben.

Am Tresen sitzen auch ein Arzt für Allgemeinmedizin und eine Verhaltensbiologin, die in Afrika einst Paviane observiert hat. Das Paar erweist sich als ideale Trunkenheitsschüler. Nach jedem Cocktail wird auf einem Din-A-4-Blatt eine Schriftprobe angefertigt. Als der Negroni geleert ist, sind ebenmäßige Zeichen zu erkennen. Noch. Der "Pimm's Cup", den Beate Hindermann als "Kräuteremulsion auf Ginbasis" definiert und samt Früchtespieß mit Gurken serviert, animiert den Arzt zu einem zackigen Schreibstil. Die Affenexpertin strichelt hingegen unverändert kontrolliert.

Dann präsentiert GoncaIo de Sousa Monteiro den "König der Cocktails": den von James Bond fälschlich verschüttelt gekippten "Dry Martini". Der Keeper verrührt Tanqueray Gin und Vermouth der Marke Noilly Prat - "der einzige, der dem Gin standhäIt" - im Verhältnis von 8:1. Und de Sousa Monteiro proklamiert, der "Gin-Rausch" sei wie kein anderer, nämlich "gesellschaftlich-visionär". Der Arzt trinkt und nähert sich dann der Keilschrift, die Soziologin zeichnet fast schon beunruhigend korrekt. Es folgt der "Gin Julep" (mit braunen Zucker und Minze), der Mediziner wirft jetzt raumgreifende Buchstaben aufs Blatt. Die Schriftzüge der Biologin kippen erstmals ein wenig nach rechts ab. Dann das Finale, Stefan Weber präsentiert eine Eigencreation: "Lord Jim" (Gin, Triple Sec, Grenadine, Grapefruitsaft), benannt nach der Loge um den Maler Martin Kippenberger, deren Motto Weber süffisant zitiert: "Keiner hilft keinem". Plötzllch greift der Arzt nach dem Notizblock seines Nachbam und ritzt "Es war ein Klasse Heimspiel" hinein. Und die Biologin setzt ohne jede Hemmung die Marxistenparole "Hasta la victoria siempre" darunter. Es ist vollbracht. Die Schüler haben das Lernziel Trunkenheit erreicht. Beate Hindermann schreitet an jedem Absolventen vorbei und überreicht einen Leistungs-Nachweis.

Aber das Schuljahr ist noch lange nicht rum: Im Dezember folgen die Lektionen zum Wodka. Dann ist Whisk(e)y an der Reihe, im Februar Rum, im März Champagner ... "Welcome", lächelt de Sousa Monteiro, "zum Club of Rausch"